Vielleicht war es, weil ich lange in West-Berlin gelebt habe und immer, wenn ich meine Eltern besuchen wollte, die Transitstrecke nehmen musste. Vielleicht auch, weil ich Grenzen nie abschreckend, sondern eher spannend fand, natürlich nur, weil mein deutscher Pass es mir erlaubte, sie problemlos zu überqueren. Jedenfalls erklärte ich unserem Freund Vedad in Sarajevo eines Morgens: Wir fahren nach Neum. Warum denn das, wollte Vedad wissen und schaute mich ungläubig an. Fährst du nicht nach Neum, wenn du an den Strand möchtest, fragte ich ihn. Ich fahre nicht mal nach Makarska, wo alle Sarajelis Urlaub machen, lachte er. Ich fahre nach Istrien, da muss ich nicht befürchten, dass ich am Strand meine Kollegen treffe am Abend haben wir im Hotel Adria eingecheckt.
Es dämmerte schon. Vom Balkon aus sahen wir, dass am Strand der kleinen Bucht im Süden Neums noch ein Restaurant geöffnet hatte. Schnell machten wir uns auf den Weg, bestellten Fisch und kühlen Žilavka und gaben uns der Illusion hin, an einer einsamen Bucht zu sitzen, von den Glühbirnen an der Markise nur schwach erleuchtet. Am Steg schaukelten einige Boote, wir schauten aufs Meer und nicht zurück, und selbst dann wären die Bettenburgen im Dunkeln nicht zu sehen gewesen, denn so richtig erwacht Neum, das „bosnische Jesolo“ nur in der Saison zum Leben.
Von der Grenze haben wir unten in der Bucht nichts mitbekommen. Die Grenze verlief oben, entlang der E65, auf der man auf dem Weg von Split nach Dubrovnik zweimal die Außengrenze der EU überqueren musste. Wie ein Keil teilt der Korridor von Neum die kroatische Adriaküste und trennt Dubrovnik vom Rest des Landes. Mich faszinierte es, weil es Geschichte zum Anfassen ist. Als im Frieden von Karlovac, der 1699 die Türkenkriege zwischen Österreich und dem Osmanischen Reich beendete, die Grenzen neu gezogen wurde, meldete sich auch Ragusa zu Wort. Aus Misstrauen gegenüber dem Konkurrenten Venedig verlangte das spätere Dubrovnik einen Puffer und bekam ihn. Bis heute hat sich der Grenzverlauf nicht geändert. Dass Dubrovnik vom Rest der kroatischen Küste abgeschnitten ist, hat es also seiner eigenen Geschichte als Seefahrerrepublik zu verdanken.
Und die Gegenwart? Als uns der Wirt das zweite Glas Žilavka einschenkt, fragt er, woher wir kommen. Wir sind am Mittag aus Sarajevo losgefahren, sage ich. Ich bin auch aus Sarajevo, freut sich der Wirt und stellt sich vor. Ich heiße Bakir. Meine Leute sind auch aus Bosnien, sonst aber leben hier nur Kroaten aus der Herzegowina.
Am nächsten Morgen sehen wir vom Balkon des Hotels Adria die Šahovnica, das rot-weiße kroatische Schachbrettmuster, an den Felsen gegenüber gepinselt. Dabei gehört der Felsen noch zur Halbinsel Klek und damit zu Bosnien-Herzegowina. Doch viele herzegowinische Kroaten meinen noch immer, hatte uns Bakir am Abend zuvor zugeraunt, dass sie ihr Heil im Anschluss an Kroatien finden würden. Kroatien selbst aber lässt nicht nur sie, sondern den ganzen bosnischen Zipfel der Adria links liegen. Ab 2022 soll der Neum-Korridor von einer zweieinhalb Kilometer langen Brücke von der Halbinsel Pelješac zum kroatischen Festland wasserseitig umfahren werden.
Wenn die Brücke kommt, hatte uns Bakir verraten, bleibt das Geld der Touristen nicht mehr in Neum, denn die Reisenden nach Dubrovnik müssten nicht mehr über den Korridor, wo das Benzin und die Hotels billiger sind als an der kroatischen Küste. Erst in diesem Moment tauchte sie auf, die Frage: Warum haben die KP-Kader aus Sarajevo in den siebziger Jahren den bosnischen Zipfel der Adria zu einem sozialistischen Ferienparadies machen wollen? Wie zerfallen war Jugoslawien damals schon?
Und wie fragil ist Europa an dieser Stelle heute? Hätte die EU den Bosniern keine Visafreiheit gegeben, könnte unser Freund Vedad seinen Urlaub nicht in Istrien verbringen. Er müsste, wenn er ans Meer will, zu Bakir in die Bucht von Neum.